von Thomas Elsen
Abgestellte Einkaufstüten, ein an ein Verkehrsschild angeketteter Reisekoffer, zusammengefaltete Decken auf dem Gehsteig. Andy Heller beobachtet den urbanen Raum als mobile Skulptur. Die Gegenstände, die sie fotografiert, sind so unspektakulär wie ihre Umgebungen und die Situationen, in denen die Fotografin sie vorfindet. Was sie mit der Kamera erfasst, sind Spuren unsichtbarer Präsenz und der Bewegung ihrer Verursacher – von Menschen, die wohl kurz zuvor erst hier gewesen sind. In Hellers Fotografien wird das Unauffällige zum Offenkundigen, das Gewöhnliche zum Geheimnisvollen.
Für ihre Arbeit CA 94103 erkundete die Fotografin 2011 für mehrere Wochen ein Areal innerhalb des gleichlautenden Postleitzahlenbereichs in San Francisco. Das Umfeld unterhalb eines markant im Innern des betreffenden Stadtteils gelegenen Autobahnkreuzes bildete das Zentrum ihrer Beobachtungen. Eine Gegend abseits aller Attraktionen, geprägt von zusammengeflickten Funktionsarchitekturen und einer von Trostlosigkeit getränkten Atmosphäre, ein seltsames Irgendwo, scheinbar bedeutungslos für jeden Besuch. Und gerade deshalb für die Fotografin so ergiebig. Mehrere Wochen war sie hier mit der Kamera unterwegs um das festzuhalten, was sie dann mit Intensität fotografisch zutage förderte: Leicht zu übersehende Objekte, deren eindeutige Zuordnung zu Unrat oder Nutzwert nicht immer klar getroffen werden kann. In einem genutzten Lebensraum fernab des Repräsentativen. (Andy Heller)
In ihren fotografischen Streifzügen sucht Andy Heller das Allgemeine im Spezifischen. Es sind die Welten in der Welt, denen sie auf der Spur ist. Im Fall von CA 94103 diejenige von Menschen ohne festen Wohnsitz, die man in den Fotografien selbst nicht sieht, doch deren Hab und Gut durch das Auge der Fotografin als ein Instrument personaler Feldvermessung sichtbar wird. Es ist das Private im Öffentlichen, das Auskunft gibt über das Wesen und die Eigentlichkeit von Orten, Bewegungen, Situationen. Die Gegenstände bewegen sich darin so anonym wie der Verkehr auf der Straße und strukturieren das statische Gerüst urbaner Architektur immer wieder neu, scheinbar geheim, und durch den präzisen Blick der Fotografin doch vor aller Augen.
Das gilt auch für Andy Hellers fotografische Expeditionen im ländlichen Raum. In den Fotografien der anschließenden Serie CA 93428 wird dies in unmittelbarer Nachbarschaft zur großstädtischen Topographie San Franciscos genauso deutlich wie in räumen, deren Aufnahmen 2005/06 in Horgau nahe Augsburg entstanden. So unterschiedlich die Orte, gesellschaftlichen Zuordnungen, kulturellen Kontexte sein mögen, so offensichtlich parallel der Charakter des Vorgefundenen: Situationen eines Sich-Umgebens mit Gegenständen als Selbstvergewisserung. Die vorgefundenen Dinge wie die Konstellationen ihrer je individuellen Anordnung selbst sind wechselnd von Ort zu Ort, von Person zu Person, von Gesellschaft zu Gesellschaft. Der Drang, sie als Projektion auf das eigene Selbst zu konfigurieren, scheint jedoch ein kulturenübergreifender Modus menschlicher Selbstbezeugung, eine Manifestation des ‚hier bin ich’.
Andy Heller gibt dieser Beobachtung eine eigene ästhetische Form. Ihre fotografischen Reflexionen erfassen Relikte des Alltags zwischen der Sehnsucht nach Halt und Sesshaftigkeit und kontemporärem Nomadentum.
Thomas Elsen ist Leiter und Kurator der Neuen Galerie im Höhmannhaus und des H2 - Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast Augsburg
von Thomas Elsen
Abandoned shopping bags, a suitcase chained to a traffic sign, folded blankets on the sidewalk. Andy Heller observes urban space as a mobile sculpture. The objects she photographs are as unspectacular as their surroundings and the situations in which the photographer meets them. What she captures with the camera are traces of invisible presence and the movement of those effecting it – of people who would have been here just a little while earlier. In Heller’s photography the inconspicuous becomes obvious, the ordinary mysterious.
For her work CA 94103 the photographer in 2011 investigated for several weeks an area within the corresponding ZIP code zone of San Francisco. The neighborhood below a freeway junction prominently located within the respective district formed the center of her observations. An area removed from any attractions, marked by makeshift structures and an atmosphere of desolation, a strange anywhere that seems to warrant no visit whatsoever. Yet it is exactly what makes it so worthwhile for the photographer. Here she spent several weeks with her camera to record, to bring to light as intense photography: Easily overlooked objects not always clearly classifiable as either trash or useful. In a lived-in habitat far away from anything upscale. (Andy Heller)
On her photographic expeditions Andy Heller searches for the universal in things specific. The worlds within the world are what she traces. In the case of CA 94103 these are people of no fixed abode not visible in the photographs as such, yet whose belongings become visible through the photographer’s eye as an instrument of a personal field survey. It is the private in the public which informs on the nature and individuality of places, movements, and situations. The objects therein move as anonymously as traffic in the streets and ever re-structure the static framework of urban architecture, seemingly secretly yet before everybody’s eyes due to the photographer’s precise regard.
The same holds true for Andy Heller’s photographic expeditions into rural areas. In the photographs of the follow-up series CA 93428 this becomes just as distinctly clear in the immediate vicinity of San Francisco’s urban topography as it does in räumen, the series
which was made in 2005/6 at Horgau near Augsburg. The places, social attributions or cultural contexts may be diverse, yet just as obviously parallel is the character of what is found: a situational arrangement within objects as self-affirmation. The objects found, as well as the constellations of their, each time individual, arrangement, change from one place to the other, from person to person, from society to society. The urge to configure them as a projection on one’s own self, however, appears to be a culturally overarching mode of human self-attestation, a manifestation of the “here am I”.
Andy Heller gives this observation a unique aesthetic form. Her photographic reflections capture relics of an everyday suspended between the desire for settled circumstances, and a contemporary nomadic way of life.
Thomas Elsen is the curator and head of Neue Galerie im Höhmannhaus and H2 - Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast Augsburg