von Benedikt Erenz
Repoussoir. Das kennt man aus der alten Kunst. Ein halb zurückgezogener Vorhang aus Stoff, aus Gezweig, ein angeschnittener Tor bogen oder Türflügel im unmittelbaren Vordergrund des Bildes. Repoussoir, das funktioniert als ein gemalter, gezeichneter Rahmen hinter dem Rahmen. Er gibt dem Motiv Tiefe, führt den Betrachter in das Bild hinein und lenkt den Blick. Große Kunst. Denn er darf sich nicht aufdrängen. Ein Repoussoir soll nicht zwischen Bild und Betrachter treten, sondern muss Teil des Bildes sein, muss eine Bewegung andeuten, Dynamik, selbst wenn es aus Stein oder Holz ist. Jan Vermeer aus Delft, zum Beispiel, war ein Meister des Repoussoir.
In den meisten der neuen Fotografien von Andy Heller allerdings hat sich dieses Element verselbstständigt. Wie schon in ihren früheren Arbeiten erkundet die Fotografin auch hier, in der Serie Ostersbaum, den Raum. Doch diesmal interessiert sie weniger die Totale (wie in räumen, 2005/2006), als der Reiz des Durchblicks.
Der Vorhang der entlaubten Bäume verhüllt die Stadtlandschaft und bleibt zugleich transparent. Er schafft Lücken und Passagen. Der Betrachter wird hineingezogen in das Motiv, und im doppelten Ausschnitt, der sich durch das gewählte Format und dann noch einmal durch die raffiniert entfaltete Repoussoir -Technik ergibt, entwickelt der Ort eine besondere Präsenz.
Eine unheimliche Präsenz.
Es sind menschenleere Orte voll menschlichen Lebens. Überall entdecken wir Spuren und Zeichen des Alltags – Autos, Preistafeln, Graffiti, Gardinen –, doch nirgends eine Menschenseele. Wie in manchen Werken der Neuen Sachlichkeit kippt die überpräzise Objektivität des Blicks um in eine unheimliche Fokussierung. Ist dieser Ort ein Tatort? Ist hier etwas passiert? Wird hier gleich etwas passieren?
Wie schon in Hellers Arbeit CA 94103 von 2011 wird der Betrachter zum Beobachter. Sein Blick beginnt zu suchen. Kann es sein, dass er et was übersehen hat? Kann es sein, dass es eine Wirklichkeit hinter dieser im weißen Becher -Licht daliegenden Foto -Wirklichkeit gibt? Was verbirgt uns das Gezweig der Bäume? Und warum muss der Blick gleichsam in Deckung bleiben?
Hellers Landschaften sind von radikaler Banalität. Eine Wuppertaler Vorortwelt, Vorortstraßen ohne »Charme«, ohne »Atmosphäre«, Motive von vollendeter Beiläufigkeit, ohne Pointe. Gebaute Nichtigkeiten füllen das Bild, Mietshäuser aus den fünfziger, sechziger Jahren, als man den Wohnblöcken immerhin noch Satteldächer gönnte, graue Architektur. Dazu eine Tankstelle, ein Werkhof, Garagen. Alles in blassen, winterlichen Farben: ein unbestimmtes Weiß, Braun, Schwarz, ein verblichenes Rosa.
Die Perspektive wechselnd, doch meist in leichter Aufsicht, zeichnen die Bilder der Ostersbaum-Suite die Topografie präzise nach, die Stellung der Baulichkeiten zueinander, oft auf Wandflächen reduziert. Raumprotokolle. Unsichtbare Wege sind zu erahnen, das Leben, das diese Räume füllt oder füllte, lässt sich rekonstruieren. Auf diese Weise halten die Fotos nichts fest, sondern an. Tatsächlich: Etwas ist geschehen. Etwas ist vorbei. Etwas wird vielleicht von neuem beginnen.
Hellers Arbeiten zeigen das Danach im gegenwärtigen Moment. Sie sind aktuelle Historiengemälde, ohne Fabel, ohne Helden. Die Schauplätze bleiben verlassen, aufgegeben, und existieren doch weiter. Wie Geschichte sich in Gegenwart verwandelt und Gegenwart in Geschichte. Wie je der Moment unseres Lebens ist und war, gewusst wird und vergessen.
Wir ziehen den Vorhang ein wenig zur Seite, und schließen ihn wieder. Nein, wir haben nichts erkannt und nichts entschlüsselt. Und ob die Welt und das Leben ein Geheimnis haben oder nicht, wird ein Geheimnis bleiben.
Benedikt Erenz ist Reporter der Chefredaktion DIE ZEIT und Herausgeber von ZEIT Geschichte
by Benedikt Erenz
Repoussoir. We know it from classic paintings. A halfway-drawn curtain made of fabric and twigs, a cutaway arch or a wing of a door in the picture’s immediate foreground. The repoussoir functions as a painted or drawn frame behind the actual frame. It bestows depth on the motif, ushers the viewer into the picture, and directs their gaze. Great art it is. As it must not impose itself. A repoussoir must not step between picture and viewer, as it has to be a part of the picture, indicating a movement or dynamic element, even if made of stone or wood. Johannes Vermeer van Delft for instance, was a master of repoussoir.
This element however has taken on a life of its own in most of Andy Heller’s new photographs. As in her earlier works, in the Ostersbaum series, the photographer investigates space. Yet with this series, she’s less intrigued by grand vistas (as in räumen, 2005/2006) than by the allure of perspective.
The curtain of defoliated trees veils an urban landscape, yet remains transparent. It creates gaps and passages. The viewer is drawn into the motif, and, through the dual frame resulting from the chosen format, then again from the cunningly deployed repoussoir technique, the location attains a particular presence.
An uncanny presence.
These are places devoid of humans, but full of human life. All over we discover traces and signs of the everyday – cars, price boards, graffiti, curtains – but nowhere a soul.
As in much of the work from Neue Sachlichkeit, the super-precise objectivity tips over into an uncanny concentration. Is this place a crime scene? Did something happen here? Is something about to happen here?
As in Heller’s 2011 work CA 94103, viewers become observers. Their gaze begins to search. Might they overlook something? Could there be a reality behind the photo spread out in Becher-style white light? What do the tree’s branches hide from us? Why does it seem as if the gaze must remain guarded?
Heller’s landscapes are of a radical banality. They are the world of Wuppertal suburbia; suburban streets devoid of “charm”, or “atmosphere”. They are motifs containing a perfect casualness, nowhere a point made. A void fills the image, apartment buildings from the fifties and sixties, when housing blocks were granted saddleback roofs still, gray architecture. In the background we see a gas station, an industrial yard, garages. Everything in pale winter colors: nondescript white, brown, black, a faded pink.
The perspective changes, viewed slightly from above, yet for the most part the Ostersbaum suite pictures precisely trace the topography and interrelated positioning of buildings, reduced oftentimes to wall surfaces. They become space protocols. Invisible paths may be inferred, and what life fills these spaces – or once filled them – can now be reconstructed. These photographs do not so much as capture anything, but rather bring something to a halt. Something has happened. Something is over. Something will perhaps start anew.
Heller’s works show the after in the present moment. They are contemporary history paintings without fable or heroes. The settings are deserted, but remain abandoned, yet still extant. History transforms into the present, and the present into history. Each moment of our life is and was, is known and forgotten.
We pull the curtain aside a bit, and close it again. No, we have not revealed or deciphered anything. And whether or not the world and life have a secret will continue to remain a secret.
Benedikt Erenz is a reporter of the editor-in-chief of DIE ZEIT and publisher of ZEIT Geschichte